Gluten ist ungesund, von Körndln wird man dick und der Pseudogetreide-Trend wird schneller vorbeigehen, als du „Chiasamen“ sagen kannst? Vorurteile, Halbwissen und Fitness-Schlagworte begegnen einem schnell, wenn man sich mit Getreide auseinandersetzt. Dabei gehört Getreide seit Jahrtausenden zu den Grundnahrungsmitteln der Menschheit und hat uns von Pasta bis Topfengolatschen vieles beschert, was wir lieben.
„Pseudogetreide sind Pflanzen wie Amaranth, Quinoa oder Buchweizen. Botanisch gehören sie nicht zu den Süßgräsern wie Weizen, Roggen oder Hafer, werden aber ganz ähnlich verwendet.“

Pseudogetreide: glutenfreie Körner
Sabine Rossnagl, Landwirtin mit eigener Mühle, Expertin für Anbau und Verarbeitung sowie größter Körndl-Fan erklärt, was hinter dem Trendwort Pseudogetreide steckt: „Pseudogetreide sind Pflanzen wie Amaranth, Quinoa oder Buchweizen. Botanisch gehören sie nicht zu den Süßgräsern wie Weizen, Roggen oder Hafer, werden aber ganz ähnlich verwendet – also zu Flocken, Mehl oder gekochten Körnern verarbeitet“, sagt Sabine. Der entscheidende Unterschied liegt also in der Pflanzenfamilie, nicht in der Nutzung. Für Konsument:innen, aber auch fürs Marketing spannend: Pseudogetreide ist von Natur aus glutenfrei. Das macht es für Menschen mit Unverträglichkeiten besonders interessant. Sabine sieht die Körner aber nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zu alten Getreidesorten. „Sie bringen Vielfalt auf den Teller und sind eine wunderbare Ergänzung zu unserem heimischen Getreide“, meint sie.
„In Wirklichkeit vertragen die meisten Menschen Gluten. Nur wer Zöliakie oder eine Allergie hat, muss strikt verzichten.“
Gluten: ein Eiweiß mit Imageproblem
Apropos Gluten: Kaum ein Stoff wird so hitzig diskutiert. „Glutenfrei verkauft sich als Synonym für gesund“, sagt Sabine. „In Wirklichkeit vertragen die meisten Menschen Gluten. Nur wer Zöliakie oder eine Allergie hat, muss strikt verzichten.“
Gluten ist kein Schadstoff, sondern ein Speicherprotein. Es sorgt dafür, dass Teige elastisch werden. Dass Brot fluffig ist, verdankt man genau diesem Eiweiß. „Viel entscheidender ist, um welche Sorte es sich handelt und wie das Getreide verarbeitet wurde“, erklärt Sabine. Ein mit Geduld angesetzter Sauerteig mit alten Sorten ist zum Beispiel viel besser verträglich als ein schnell hochgezüchtetes Weißbrot.
Was ist Gluten?
„Gluten“ ist ein Eiweißgemisch aus Getreide. Es verleiht Teigen Elastizität und sorgt dafür, dass Brot und Gebäck beim Backen ihre Form halten. Nur bei Zöliakie oder Glutenunverträglichkeit muss strikt darauf verzichtet werden. Für die meisten Menschen ist Gluten gut verträglich. „Glutenfrei“ ist also nicht automatisch gesünder. Und ja, „das Gluten“ ist die Einzahl, „die Glutene“ die Mehrzahl.

Wenn das Korn lebendig wird
Das richtige Timing sollte man im Umgang mit Getreide nicht unterschätzen. So heißt es auch, dass gekeimtes Getreide besonders nährstoffreich sei. Beim Keimen beginnt das Korn, seine Reserven umzuwandeln. Stärke wird zu Zucker, Eiweiß zu leichter verdaulichen Aminosäuren. Gleichzeitig steigt laut Sabine der Gehalt an Vitaminen, besonders B-Vitaminen und Antioxidantien.
Für Konsument:innen kann das Vorteile bringen: Mehr Vitalstoffe, bessere Verdaulichkeit und weniger Antinährstoffe wie Phytinsäure machen gekeimtes Getreide zum Superfood. „Während des Keimprozesses werden Säuren abgebaut und die Mineralstoffbilanz verschiebt sich in Richtung Basenüberschuss“, erklärt Sabine Rossnagl. Besonders beim Basenfasten, wo es darum geht, den Organismus zu entsäuern und zu regenerieren, ist gekeimtes Getreide eine ideale Option. Die Erkenntnis ist bei weitem nicht neu und schon gar kein Trend. „Gekeimtes Getreide ist eine Wiederentdeckung wertvollen, alten Wissens“, meint Sabine. Der Landwirtin ist wichtig, keine pauschalen Aussagen zu treffen, denn wie bei allem machen die Qualität und die Verarbeitung viel aus.
Wie Technik den Unterschied macht
Wie ein Korn weiterverarbeitet wird, entscheidet darüber, was am Ende auf dem Teller landet. Wobei, laut Sabine, jede Verarbeitung ihren Platz hat. Man muss nur wissen, wie man sie einsetzt. Hier drei Beispiele:
- Mahlen bringt das volle Korn ins Mehl, doch die Haltbarkeit ist begrenzt, weil die wertvollen Öle im Korn schnell ranzig werden.
- Pressen/Quetschen, wie bei Flocken, erhält viele Vitalstoffe und macht das Korn bekömmlicher.
- Thermische Behandlung, wie Rösten, bringt Aromen, mindert aber hitzeempfindliche Vitamine.
„Alte Sorten haben tiefere Wurzeln, sind widerstandsfähiger und erschließen damit besser im Boden gelagerte Nährstoffe.“

Alte Sorten: Robuste Charaktere
Die Wiederentdeckung von Altem ist nicht nur in der Mode oder der Musik üblich, sondern offenbar auch in der Ernährung angekommen. Sogenannte alte Sorten sind von Omas Sprachgebrauch in hippe Reformhaus-Regale aufgestiegen und das mit gutem Grund: Alte Sorten wie Einkorn, Emmer oder Nackthafer sind nicht nur geschmacklich gut, sondern auch von Nährstoffprofil her sehr wertvoll.
Im Unterschied zu modernen Züchtungen punkten alte Getreide mit höherem Eiweißgehalt, mehr Mineralstoffen und besonderen sekundären Pflanzenstoffen. Sabine erzählt begeistert von ihrem Liebling, dem Einkorn: Es ist reich an sekundären Pflanzenstoffen, besonders an Carotinoiden wie Lutein, das stark antioxidativ und entzündungshemmend wirken kann. Lutein schützt die Zellen vor freien Radikalen, unterstützt Herz, Haut und Zellgesundheit und ist besonders wichtig für die Augengesundheit. Auch ökologisch spielen die alten Getreidesorten ihre Stärken aus: „Alte Sorten haben tiefere Wurzeln, sind widerstandsfähiger und erschließen damit besser im Boden gelagerte Nährstoffe“, so die Landwirtin.
Getreide als Kulturgut
Wie bei allen Lebensmitteln gilt auch für Getreide: Wer bewusst wählt, schmeckt den Unterschied. „Für mich ist Getreide ein Kulturgut. Es ernährt uns seit Jahrtausenden, und jede Ähre erzählt Geschichte“, meint Sabine. Bei den Getreidesorten, die im Kräuterhof Rossnagl mit der Hand gemahlen werden, ist das auf jeden Fall noch immer so.

















