Während saisonale Küche menschheitsgeschichtlich betrachtet bis vor wenigen Augenblicken die Norm war, haben Fortschritte in Züchtung, Lagerung, Transport, Konservierung und Imitation das Konzept Saisonalität innerhalb weniger Jahrzehnte komplett unterwandert. So erfolgreich, dass selbst Hausverstand und tradiertes Wissen nicht mehr ausreichen, saisonale Ess-Entscheidungen zu treffen, denn lustige Zeitgenossinnen und Zeitgenossen wissen auf Kritik an asaisonalen Zutaten immer die passende Antwort:
„Irgendwo hat’s bestimmt Saison.“
Leider hinkt auch das Bildungssystem hinter dem Wissens- und Werteverlust beim Essen hinterher. Die Schule schert sich nicht um die Vermittlung echter Esskultur, die bei Boden und Landwirtschaft anfängt, über Sortenkunde, Einkauf, Sensorik, Kochen bis Konservieren reicht und bei der Verwendung verschiedener Esswerkzeuge, Temperatur, Konsistenz und Wertschätzung all der genannten Bereiche noch lange nicht aufhört.
Japanische Kaiseki-Menüs: so zeitgemäß wie vorbildlich
Dass es auch anders geht, zeigt zum Beispiel ein Blick nach Japan, wo mit der Kultur des Kaiseki seit Jahrhunderten eine so strenge wie saisonale Küche gepflegt wird. Ursprünglich entstand das Kaiseki-Menü als Ergänzung zur Teezeremonie und war vegetarisch (vielfach sogar vegan). Heute ist diese Art zu kochen, anzurichten und zu essen so zeitgemäß wie vorbildlich für z. B. die neue skandinavische Küche.
Ein Kaiseki-Menü besteht aus dem, was gerade Saison hat, und zwar rund um den Ort, an dem es behutsam zubereitet wird.
Das ist der wesentliche Aspekt, der beim so viel diskutierten Schlagwort Saisonalität unter den Tisch gefallen ist. Berühmte Kaiseki-Restaurants in Kyoto wechseln spätestens jeden Monat nicht nur ihre Karte, sondern auch das Geschirr und die Dekoration – ob Kunstgegenstände oder Blumenschmuck. Noma-Chef René Redzepi hatte während seines Tokio-Gastspiels verblüfft von 36 Mikrosaisonen gesprochen, die ihm in Kyoto erklärt worden seien. Der deutsche Koch und Philosoph Malte Härtig, der zum Thema Kaiseki dissertiert und eineinhalb Jahre in Kyoto gelebt hat, verweist auf die dort geläufige, kleinteilige Struktur des Bauernjahres mit je zwei Einheiten pro Monat mit jeweils eigenen Namen. Er vergleicht das mit den Bauernregeln, wie wir sie kennen.
Jetzt kommen die Bauernregeln ins Spiel
Das ist deshalb spannend, weil man mittlerweile weiß, dass an den Beobachtungen der Vegetation in Zusammenhang mit dem Wetter, die in Form von Regeln im bäuerlichen Kalender Niederschlag fanden, weit mehr dran ist als gedacht. Und entgegen den bei uns im Alltag geläufigen vier Saisonen, kennt die Phänologie, die jährlich wiederkehrende Prozesse in Pflanzen- und Tierreich beobachtet, zehn Jahreszeiten.
Frühling, Sommer und Herbst sind demnach in je drei kürzere Perioden unterteilt. Wenn in der Natur und in ihrer kultivierten Form – der Landwirtschaft – alles seine Zeit hat, warum das dann in der Küche ignorieren? Der Vorteil von saisonalen Zutaten ist ja auch, dass sie eine überschaubare Zeit lang idealtypisch schmecken, und dass das davor oder danach andere Zutaten tun, denen genauso viel Beachtung geschenkt gehört. Neben Spargel zum Beispiel auch Erbsen, Spinat, Favabohnen oder Brennnesseln. So wird es am Teller nie langweilig.
Das erklärt auch, warum ein Sommer, in dem es ein einziges Mal rund um die Sommersonnenwende frisch gebackene Stanitzel aus feinem Biskuit mit handgeschlagenem Obers und sonnenwarmen Mieze Schindler oder Mara des Bois barfuß im Garten gegeben hat, in der Erinnerung zu einer hervorragenden Erdbeersaison wird, während ein Sommer mit wochenlang immer wieder enttäuschenden, weil wässrigen und faden Erdbeeren als schlechtes Erdbeerjahr erinnert wird, Menge hin oder her. Saison funktioniert eben nicht losgelöst von Ort und Kontext.