„Glutamat NEIN NEIN NEIN.“ – „Bei MSG war ich raus.“ – „Ich bekomme Migräne, wenn ich das sehe …“ So oder so ähnlich klingen unzählige Kommentare unter einer TikTok-Videoreihe, die zuletzt viral ging und zeigt, wie in einem Wok Schritt für Schritt die altbekannten Gerichte aus dem europäisch verwaschenen Chinarestaurant zubereitet werden. Das Prinzip ist simpel: Öl, Zucker, Gemüse, Fleisch und ein paar Soßen, kräftiges Schwenken bei großer Hitze, fertig ist das ‚Chinese Takeaway‘. Doch statt über die teils horrenden Zuckermengen oder die fragwürdige Fleischqualität zu diskutieren, konzentrierten sich die Kommentare nur auf ein Thema: das Glutamat (engl. MSG).
Vielen zieht sich beim bloßen Wort der Magen zusammen. Doch ist Glutamat tatsächlich gesundheitsschädlich? Steckt wirklich etwas hinter dem ‚Chinese Restaurant Syndrome‘? Oder ist all die Panik umsonst?
Der fünfte Geschmack
Glutamat, genauer gesagt Mononatriumglutamat (MSG), ist das Salz der Glutaminsäure, also das Salz einer der zwanzig essentiellen Aminosäuren, die unser Körper selbst in rauen Mengen für die Proteinsynthese produzieren muss. Im Schnitt stecken natürlicherweise rund zwei Kilogramm Glutamat in jedem und jeder von uns, täglich stellen wir rund 50 Gramm selbst her. Das gilt nicht nur für den menschlichen Körper, sondern auch für die Körper und Erzeugnisse der Tiere, die wir als Lebensmittel nutzen. So enthält Rindfleisch größere Mengen Glutamat, ebenso wie Parmesan und andere Käsesorten. Und auch in Gemüse wie Tomaten oder Spargel steckt von Natur aus Glutamat.
Diese Erkenntnis hatte 1908 auch der japanische Chemiker Kikunae Ikeda. Nach einer Forschungsreise nach Deutschland stellte er sich die Frage, welche Substanz diesen wohlig-herzhaften Geschmack in vielen Produkten mit sich bringt. Seine Erkenntnis: Es ist das Glutamat, dessen bis dato unbeschriebenen Geschmack er als umami (Jap.: „wohlschmeckend“) deklarierte. Heute ist umami offiziell neben süß, sauer, salzig und bitter als fünfter Grundgeschmack anerkannt, da es nicht durch die Kombination anderer Grundgeschmäcker reproduziert werden kann. Um Umami zu schmecken, müssen ganz bestimmte Moleküle an die Geschmacksrezeptoren der Zunge andocken. Das dabei für die Geschmackswahrnehmung wichtigste Molekül ist das Glutamat.
Das Märchen vom „Chinese Restaurant Syndrome“
Nachdem Ikeda das Glutamat schließlich als einfachen Geschmacksverstärker auf den Markt gebracht hatte, breitete es sich rasend schnell im gesamten asiatischen Raum aus. Bereits in den 1920er Jahren war das feine weiße Pulver zum festen Bestandteil in vielen Küchen Asiens geworden. Und auch in Europa feierte Glutamat seinen Siegeszug: Der Schweizer Erfinder Julius Maggi brachte zu Beginn des 20. Jahrhunderts seinen bis heute berühmten Brühwürfel auf den Markt, der neben Salz vor allem große Mengen Hefeextrakt und damit Glutamat enthält.
Der schlechte Ruf kam erst Jahrzehnte später. 1968 schrieb ein Arzt unter dem Namen Robert Ho Man Kwok einen Leserbrief an das renommierte New England Journal of Medicine. Darin berichtete er von Herzklopfen und Taubheitsgefühlen nach dem Besuch chinesischer Restaurants und vermutete Glutamat als Ursache.
Was ganz in der Tradition der Leserbriefe im NEJM eher als humoristische Zuschrift gedacht war, entwickelte eine Eigendynamik. Andere Ärzte antworteten Kwok, dessen Existenz bis heute umstritten ist, mit der Schilderung ähnlicher Symptome und schließlich griff sogar die New York Times das Thema auf. Plötzlich war das ‚Chinese Restaurant Syndrom‘, das ursprünglich wohl nur als Witz unter Medizinern gedacht war, geboren. Denn er passte perfekt in eine Zeit, in der die asiatische Küche ohnehin unter dem Generalverdacht stand, schmutzig, abstoßend und gefährlich zu sein. Das Etikett ‚No MSG‘ wurde schnell zum Verkaufsargument, suggerierend, dass die Verwendung von Glutamat etwas Schlimmes sei.
Und die Wissenschaft?
All dies fiel zunächst auf fruchtbaren Boden, da trotz der jahrzehntelangen Verwendung von Glutamat noch keine umfangreichen Studien über dessen Verträglichkeit angestellt worden waren. Diese folgten nun. Manche Wissenschafter:innen wollen Zusammenhänge mit Migräne, Parkinson und Alzheimer gefunden haben, andere mit Krebs. Die für diese Studien genutzten Methoden waren allerdings hochproblematisch.
Ein Hoch auf die Blut-Hirn-Schranke
Glutamat ist der wichtigste Neurotransmitter im Gehirn. Gerät seine Konzentration dort aus dem Gleichgewicht, etwa durch Krankheiten oder Stoffwechselstörungen, können Nervenzellen überlastet und nachhaltig geschädigt werden und so tatsächlich zu Erkrankungen wie Parkinson führen. Mit der Ernährung hat das jedoch nichts zu tun: Das Glutamat aus Lebensmitteln gelangt gar nicht ins Gehirn. Dafür sorgt die sogenannte ‚Blut-Hirn-Schranke‘, die schon 1885 von Paul Ehrlich und Edwin Goldman beschrieben wurde. Sie funktioniert wie ein Filter an den Blutgefäßen des Gehirns: Schädliche Stoffe bleiben draußen, Nährstoffe und Abfallprodukte werden reguliert ausgetauscht. Überschüssiges Glutamat aus dem Blut wird zudem in die harmlosere Substanz Glutamin umgewandelt und über den Harnstoffzyklus ausgeschieden.
Einmal wurde Mäusen Glutamat in absurden Mengen direkt unter die Haut injiziert, ein anderes Mal dienten einfache Patient:innenbefragungen ohne Kontrollgruppe als ‚Beweis‘. In den 1969 veröffentlichten Studien des Neurologen Herbert H. Schaumburg wussten alle Versuchspersonen der (ohnehin viel zu kleinen) Versuchsgruppe, dass sie Glutamat verabreicht bekommen hatten, sodass nicht zu klären ist, ob die angegebenen Nebenwirkungen tatsächlich auf die Substanz zurückzuführen waren oder auf das Wissen um ihre Einnahme. Dass Schaumburg sich selbst zu den Proband:innen seiner eigenen Versuchsgruppe gezählt hatte, spricht für sich. Trotz mangelhafter wissenschaftlicher Methodik galten damit viele Vorurteile als bestätigt, chinesische Restaurants wurden gemieden oder sahen sich zum Verzicht auf Glutamat gezwungen.
Wirklich belastbare Studien ließen zunächst noch einige Jahre auf sich warten. Heute ist jedoch wissenschaftlich einwandfrei bewiesen: Der Konsum von Glutamat über unsere Nahrung hat keine nachweisbaren negativen Folgen für uns. Selbst eine Studie, in der Proband:innen Glutamat verabreicht wurde, die zuvor eine Unverträglichkeit angenommen hatten, liefert überaus inkonsistente und nicht reproduzierbare Ergebnisse.
Das eigentliche Problem
Warum hält sich der schlechte Ruf trotzdem? Zum einen, weil Glutamat häufig in Fertigprodukten steckt, also genau dort, wo auch viel Salz, Zucker und Fett lauern. Wer Glutamat meidet, meidet also meist automatisch Snacks, Fertigsuppen und Tiefkühlgerichte und lebt damit gesünder. Aber nicht wegen des Glutamats, sondern wegen des Drumherums.
Zum anderen gilt Glutamat für einige als der Gegenspieler einer frischen, produktorientierten Küche aus hochwertigen Zutaten. Diese sollen von sich aus schon vermeintlich ausreichend Geschmack mit ins Gericht bringen und nicht erst durch irgendein Pülverchen genießbar gemacht werden müssen. Eine Position, die sicherlich ihre Berechtigung hat, sich aber eben auch der Frage stellen muss, warum die Grenze zur Intensivierung von Aromen nun gerade ausgerechnet beim Umami gezogen werden soll und nicht etwa bei Salz, Zucker oder Säure, die, richtig eingesetzt, ebenfalls Aromen hervorheben und verstärken.
Die noch immer grassierende Angst vor Glutamat ist ein Kind von Missverständnissen, cleverem Marketing und schlussendlich auch Vorurteilen. Wissenschaftlich lässt sich kaum etwas gegen das geschmacksfördernde Pulver sagen. Gefährlich ist schließlich nicht das Glutamat selbst, sondern die hochverarbeiteten Produkte, in denen es oft steckt. Oder, um es mit den Worten eines der TikTok-Kommentatoren zu formulieren: „Ohne es, ist es nur salziger, öliger Reis.“