Worum es im TIAN wirklich geht – das versteht man am besten, wenn Paul Ivić darüber spricht, was davor geschah. Also vor dem Dezember 2011, als das TIAN in der Wiener Himmelpfortgasse seine Pforten öffnete – und zum prägendsten vegetarischen Sternerestaurant Österreichs werden sollte. Ein Restaurant, das wie kein anderes die Zusammenarbeit mit regionalen Bio-Produzentinnen und -Produzenten zelebriert. Das mit Gerichten wie Radicchio-Kugeln mit Schwarzwurzelmousse oder Knollensellerietörtchen der vegetarischen Küche nie gekannte Strahlkraft verleiht. Und Nachhaltigkeit als etwas versteht, das weit über CO₂-Grenzwerte hinausgeht.
„Ich arbeitete in einem großen Resort in Deutschland als Executive Chef und eigentlich war mir dort alles scheißegal.“
Existenzielle Krise als Gamechanger
Was also geschah vor der Eröffnung des TIAN so Bemerkenswertes? „Ich arbeitete in einem großen Resort in Deutschland als Executive Chef“, erklärt Ivić, „und eigentlich war mir dort alles scheißegal: die Lieferantinnen und Lieferanten, die Qualität der Lebensmittel, sogar die Gäste. Ich habe ihnen dort instagramtaugliche, aber vergiftete Teller aufgetischt, weil es einfach nur um gute Umsatzzahlen ging.“
Der gebürtige Tiroler wusste damals schon, dass er damit gegen seine Prinzipien verstieß. Und schlitterte deswegen immer tiefer in eine „existenzielle Krise“, wie er selbst sagt. So sehr, dass er krank wurde. Physische und psychische Probleme, die schwer in den Griff zu bekommen waren.„Kochen war plötzlich eine Belastung geworden, obwohl es bis dahin eigentlich mein einziger Anker gewesen war“, erinnert sich der leidenschaftliche Koch. „Der Arzt verschrieb mir starke Medikamente, aber ich wusste: Ich bekomme das nur hin, wenn ich zu mir selbst zurückfinde.“
„In dieser Zeit begann ich zu verstehen, dass es mir immer schon um die Sehnsucht nach dem Geschmack meiner Kindheit gegangen war.“
Die Kraft der vegetarischen Ernährung
Das tat Ivić, indem er sich auf die Kraft der vegetarischen Ernährung zurückbesann und all sein Wissen über Ernährung am eigenen Leib anwendete. Echte, hochwertige Lebensmittel zu sich nahm. „Bis dahin hatte ich nie gewusst, warum ich Koch geworden war. Aber in dieser Zeit begann ich zu verstehen, dass es mir immer schon um die Sehnsucht nach dem Geschmack meiner Kindheit gegangen war. Diesem echten, unverfälschten Geschmack der Natur.“ Schicksal oder Zufall, aber zu genau dieser Zeit lernte Paul Ivić Christian Halper kennen. Jenem idealistischen Unternehmer also, der das TIAN erdacht hatte – und für die Eröffnung nun einen ebenso idealistischen Küchenchef brauchte.
Restaurant TIAN
2011 eröffnet, steht das Wiener Sternerestaurant TIAN heute für produktbesessene Küche, die mit ihren 6- oder 8-Gänge-Menüs zeigt, wie großartig vegetarische Bio-Lebensmittel aus Österreich schmecken können.
„Mich selbst und auch die Gäste durch gutes Essen mit der Natur verbinden, das war mein Ziel.“
Eine Küche mit Haltung
Ivić wusste sofort: Das könnte er sein, der Ort, an dem er seine Vision verwirklichen konnte: „Mich selbst und auch die Gäste durch gutes Essen mit der Natur verbinden, das war mein Ziel“, sagt er. Ein Ziel, das eine neue Begeisterung fürs Kochen in ihm entfachte – und ihn seither zu einem absoluten Vorreiter innerhalb der Kochzunft werden ließ. Nachhaltigkeit, Farm-to-table, Biodiversität – all diese überstrapazierten Begriffe innerhalb der Gastronomie werden wohl nirgends so dermaßen mit Leben gefüllt wie im TIAN.
„Wir sind in ständigem Austausch mit unseren Lieferantinnen und Lieferanten, wissen, wie sie arbeiten. Leiden mit, wenn die Wetterverhältnisse schwierig werden.“
Das liegt auch an der intensiven Zusammenarbeit mit den Produzentinnen und Produzenten. „Wir sind in ständigem Austausch mit ihnen, wissen, wie sie arbeiten. Leiden mit, wenn die Wetterverhältnisse schwierig werden. Dadurch hat sich auch bei allen Mitarbeiter:innen eine ganz bestimmte Haltung gegenüber Lebensmitteln entwickelt. Wir verarbeiten sie immer in ihrer Gesamtheit, from root to leaf“, so Ivić – und zeigt den Gästen damit, dass auch aus Karottengrün oder Sellerieschalen großartige Gerichte entstehen können.
„Das alles ist eben nicht scheißegal. Gute Lebensmittel können die Welt besser machen – und das mehr denn je.“
Unsere kleinteilige Landwirtschaft als Schlüssel
Dass ein weltweit so einzigartiges Konzept wie das TIAN ausgerechnet in Österreich funktioniert, ist für den versierten Koch kein Zufall. „Österreich hat im Vergleich zu den meisten anderen Ländern eine sehr kleinteilige Landwirtschaft“, sagt er. „Für die Biodiversität und die Lebensmittelqualität unseres Landes ist das eine enorme Chance. Mit Gaumen Hoch können wir alle gemeinsam ein verstärktes Bewusstsein für diese Thematik schaffen und für eine gute Entwicklung sorgen“, ist Ivić überzeugt. Nicht ohne hinzuzufügen: „Das alles ist eben nicht scheißegal. Gute Lebensmittel können die Welt besser machen – und das mehr denn je.“