Es riecht nach Wald, wenn man in den alten Gewölbekeller im 2. Wiener Gemeindebezirk hinabsteigt. Dort stehen handgefertigte Holzregale, auf denen Kräuterseitlinge, Austernpilze und Shiitake-Pilze aus Substratblöcken quillen. Manchmal sind auch besonders rare Spezies wie Igelstachelbart, Kastanien- oder Rosenseitlinge dabei: Die Pilzbrüder Martin und Otto Kammerlander probieren sich gerne aus. Der Altbaukeller mit dem waldigen Klima ist ihr zweites Büro. Hauptberuflich arbeitet Otto als Jurist in einem Verlag, während Martin mit seiner Frau ein Designstudio betreibt. Mit den Pilzen starteten sie 2018.
„Wir waren in einer Situation, in der wir etwas verändern wollten. Wir sitzen beide recht viel vor dem Bildschirm. Mit Menschen zu arbeiten und Lebensmittel wachsen zu sehen, hat eine unglaubliche Befriedigung, die ein Gehaltsscheck nicht hergibt“, sagt Martin. Die ersten Versuche im Keller gingen auf, die ersten potenziellen Kunden – das Mochi und das Café Ansari um die Ecke – zeigten Interesse an frischer Ware in Bio-Qualität. So nahm alles seinen Lauf.
„Wenn ein Keim reinkommt, kippt der ganze Laden.“
Die Pilzbrüder mieteten den 200-m2-Keller an und experimentieren mit Faktoren wie Sauerstoffgehalt, Luftfeuchtigkeit und Temperatur, um ein waldähnliches Klima herzustellen, in dem Pilze gerne groß werden. Bis sie den Dreh raus hatten, dauerte es. Der Weg zum Erfolg war gepflastert mit Pilzen ohne Hüte, Rückschlägen und Learnings.
„Das Interessante ist das Wissen, warum etwas aufgeht. Das ist kein Schulwissen, sondern eines, das man sich aneignen muss“, sagt Martin. Ganz wichtig bei der Pilzzucht ist die Hygiene. „Wenn ein Keim reinkommt, kippt der ganze Laden.“ Mittlerweile haben sie das Waldklima im Keller so gut imitiert, dass nur selten etwas schiefgeht. Kreislaufwirtschaft geschieht ebenso: „Wenn das Substrat abgeerntet ist, kommt es in die Bio-Tonne und wird von der Stadt Wien abgeholt. Die machen daraus dann Humus“, sagt Otto.
„Im besten Fall liegt eine Stunde zwischen dem Ernten und der Ankunft der Pilze in der Restaurantküche.“
Im sechsten Jahr ihres Bestehens produzieren Martin und Otto mithilfe von drei Mitarbeitenden 150 bis 200 Kilogramm Pilze die Woche. Der große Vorteil der Brüder: „Im besten Fall liegt eine Stunde zwischen dem Ernten und der Ankunft der Pilze in der Restaurantküche“, sagt Otto. Die beiden haben sich einen Stock an Kundinnen und Kunden aufgebaut. Mit Lastenrädern beliefern sie Restaurants wie Tian, Labstelle und Kelsen, Feinkostläden und Bio-Lieferservices. Privatpersonen können ab Hof einkaufen, die Kommunikation verläuft niederschwellig via WhatsApp. Im Grätzl sind sie fast schon sowas wie Local Heroes: Man kennt sich, die Beziehungen sind persönlich, „es wird viel geschwatzt und gefachsimpelt“, wie Martin es ausdrückt und zu schätzen weiß.
„Für uns als Landwirte war das eine gute Zeit. Plötzlich war Kochen wieder ein Thema, und als Essens-Urproduzenten durften wir uns freier bewegen.“
In Lockdown-Zeiten haben die Leute Schlange gestanden, um ihre vorbestellten Sackerln mit den frischen Pilzen abzuholen. „Für uns als Landwirte war das eine gute Zeit. Plötzlich war Kochen wieder ein Thema, und als Essens-Urproduzenten durften wir uns freier bewegen“, sagt Martin. Wie viele andere auch hat auch das Tian Bistro auf Take-away umgesattelt. Im Sortiment war ein Burger mit Kräuterseitlingen aus dem Keller der Brüder. „Der war so beliebt, dass sie damit durch ganz Österreich getourt sind.“
Pilze werden generell wiederentdeckt. Sorten wie den Shiitake Fleischersatz zu nennen, wird ihm nicht gerecht, weil er in seiner Essenz eben Pilz ist. Aber von der Konsistenz her ist er durchaus mit Fleisch vergleichbar. So wie der fasrige Igelstachelbart, der sich positiv auf Gehirn, Nervensystem und Verdauung auswirken soll, gerne mit Hühnerfleisch verglichen wird. Die Veredelungsmöglichkeiten sind grenzenlos. Die Pilze lassen sich knusprig anbraten und saftig im Ofen backen. Aus ihnen lassen sich Suppen mit einem einzigartigen Eigengeschmack kochen. Traktiert man Shiitake-Stämme mit dem Fleischhammer und brät sie in Folge mit Chili und Zitrone an, hat man so etwas wie Pulled Pork, nur ohne Fleisch. „Die Kinder schmieren sich das aufs Brot“, sagt Martin, der, wie Otto auch, drei Kinder hat.
Pilze als Türöffner
So wie das Mycel, das Netzwerk aus Pilzfäden im Substrat, die Fruchtkörper hervorbringt, bringt das Netzwerk aus Menschen, das die Brüder durch ihren Nebenerwerb aufgebaut haben, andere Früchte hervor: gute Beziehungen, interessante Gespräche, emotionalen Mehrwert. „Die Pilze sind Türöffner“, sagt Martin. Die Brüder haben noch viel vor.
„Der Speisepilz ist ein kleines Segment von dem, was eigentlich möglich ist: Man denke an medizinische Heilpilze und an das, was sich aus Pilzen herstellen lässt: Dämmstoffe, Baustoffe, Textilien.“ Sie wollen wachsen, langsam und kontinuierlich. Derzeit sind sie am Entwickeln einer Schokolade, die sie dann zusätzlich zu den Antipasti und Pilzen in Gläsern anbieten wollen, die es bereits gibt. „Wir setzen einen Schritt nach dem anderen“, wie Otto sagt, der seinen Kindern eine funktionierende Firma übergeben will, die sie dann hauptberuflich betreiben können.