31 Kilogramm – so viel Milch nimmt im Durchschnitt jeder Mensch auf dieser Welt pro Jahr zu sich. Natürlich handelt es sich dabei nicht nur um Milch in ihrer flüssigen Form, sondern in all ihren Ausprägungen. Und die sind bekanntlich vielfältig: Von Joghurt, Butter über Hart- und Weichkäse bis hin zu Buttermilch oder Topfen gibt es das weiße Gold, das zum allergrößten Teil von der Kuh stammt. Und vegane Trends hin oder her: Der Milchmarkt ist und bleibt ein Wachstumsmarkt. Mit einem weltweiten Umsatz von über 340 Milliarden Euro prognostizieren Expert:innen ein jährliches Wachstum von über sechs (!) Prozent.

Dass das so ist, liegt an einem entscheidenden Produktionsfaktor: der Pasteurisierung. Dabei handelt es sich um ein Wärmebehandlungsverfahren, bei dem Milch kurzzeitig auf 60 bis 85 Grad erhitzt wird, um, wie es gemeinhin heißt, „Keime abzutöten und die Haltbarkeit zu verlängern“. Die Sache ist aber folgende: Die Pasteurisierung tötet auch eine Vielzahl wichtiger Nährstoffe ab, die in der Rohmilch vorhanden sind. „Eigentlich ist eine pasteurisierte Milch eine tote Milch“, sagt Martin Nuart. Als Küchenchef der Bär & Schaf Wirtschaft, der in den Wintermonaten außerdem in der famlien-eigenen Hofkäserei in Kärnten arbeitet, weiß Nuart nur zu gut um die Vorzüge unpasteurisierter Milchprodukte. Aber welche Vorzüge genau? Und warum wird dennoch überall pasteurisiert, was das Zeug hält?
Bakterien und Enzyme, die schmecken
Fragen, die seit Jahren auch Robert Strasser beschäftigen. Der als „Rohmilchpionier“ bekannte Käser aus Oberösterreich verzichtet seit über 25 Jahren auf die Pasteurisierung seiner Milchprodukte.
„Weil sie durch die vielen Nährstoffe, die durch die Erhitzung verloren gehen, einfach gesünder für uns Menschen ist“, sagt Strasser, der in seinem Betrieb in Frankenburg etwa Butter oder Innviertler Graukäse herstellt. Tatsächlich enthalten Rohmilchprodukte wertvolle Nährstoffe, die durch die Pasteurisierung zum größten Teil abgetötet werden: natürliche Enzyme wie Laktase oder Lipase, hitzeempfindliche Vitamine wie B1, B2, B6 und C und vor allem probiotische Milchsäurebakterien.
„Durch die lebendigen Enzyme entsteht vor allem bei der Reifung der unverfälschte Herkunftscharakter eines Käses.“
Letztere spielen eine entscheidende Rolle im Fermentationsprozess, vor allem bei Hart- oder Weichkäse, weil sie für die Reifung verantwortlich sind und Aroma sowie Textur des Käses wesentlich beeinflussen. Die lebendigen Milchsäurebakterien sind für das Mikrobiom in unserem Darm Gold wert und stärken dadurch das Immunsystem. Das alles hat nicht nur ernährungsphysiologische, sondern auch geschmackliche Auswirkungen. Dass auf Käsewägen in der Spitzengastronomie zum Großteil Rohmilchkäse zu finden ist, ist kein Zufall: „Durch die lebendigen Enzyme entsteht vor allem bei der Reifung der unverfälschte Herkunftscharakter eines Käses“, weiß Nuart. „Der Geschmack ist vielschichtiger, komplexer. Jeder Käse hat sein Terroir, und beim Rohmilchkäse schmeckt man den Unterschied zwischen einem aus Kärnten und einem aus Niederösterreich.“ Klingt so, als wäre die Pasteurisierung ein Hirngespinst der Milchindustrie, das es eigentlich gar nicht braucht. Ist das wirklich so?
Rohmilch als Immunbooster
Viele Wissenschaftler:innen sehen die Sache mit der Rohmilch skeptisch. Laut dem US-amerikanischen Center for Disease Control and Prevention (CDC) ist Rohmilch 150-mal gefährlicher als pasteurisierte Milch, das heißt: Das Risiko gesundheitlicher Probleme ist durch den Verzehr von Rohmilchprodukten 150-mal größer als durch den Verzehr von pasteurisierten Milchprodukten. Laut CDC seien in den USA zwischen 1993 und 2006 60 Prozent der milchbedingten Beschwerden mit Krankenhausaufenthalten auf den Verzehr von Rohmilchprodukten zurückzuführen – und das, obwohl diese weniger als ein Prozent des gesamten Milchkonsums in den USA ausmachten.
In Österreich rät auch die Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) vom Verzehr von Rohmilchprodukten ab: Rohmilch könne mit verheerenden Bakterien wie Listerien, Salmonellen, E. coli, Campylobacter und Yersinien belastet sein. Listeriose-Fälle stünden oft in Verbindung mit dem Verzehr von Rohmilchprodukten und wiesen eine hohe Sterblichkeitsrate von 20 Prozent auf. Das Gesundheitsministerium rät Schwangeren, Kindern, älteren und immungeschwächten Personen gleich ganz vom Rohmilchverzehr ab – und überhaupt: Laut dem österreichischen Lebensmittelgesetz darf Rohmilch nur direkt ab Hof verkauft werden und muss mit dem Vermerk „vor dem Verzehr abkochen“ gekennzeichnet sein.
„Wenn Milch von hunderten Lieferanten über tausende von Kilometern transportiert und lauter Temperaturschwankungen ausgesetzt und dann von unterschiedlichen Menschen und Maschinen an unterschiedlichen Orten verarbeitet wird, wie soll da irgendwer die hygienische Sicherheit garantieren können?“
Was sagt Robert Strasser dazu? „Für die industrielle Produktion von Milchprodukten ist die Pasteurisierung leider notwendig“, sagt Strasser. „Wenn Milch von hunderten Lieferanten über tausende von Kilometern transportiert und lauter Temperaturschwankungen ausgesetzt und dann von unterschiedlichen Menschen und Maschinen an unterschiedlichen Orten verarbeitet wird, wie soll da irgendwer die hygienische Sicherheit garantieren können?“
Im Falle von kleineren Käsereien sei das anders: Hier stellt sich vielmehr die Frage, warum diese die Pasteurisierung überhaupt bräuchten. „Kleinere Betriebe wissen genau, worauf es ankommt, die Produktionskette ist überschaubar, damit sind die Risiken für Unreinheiten viel geringer als in diesen großen, internationalen Strukturen.“ Außerdem gibt Strasser zu bedenken: „Dass Rohmilch für Unreinheiten besonders anfällig sei, ist ein Mythos. Im Gegenteil: Rohmilch hat, wenn sie richtig und bei konstanten Temperaturen gelagert wird, ein eigenes Immunsystem, also Abwehrmechanismen aus Enzymen, Immunzellen und nützlichen Bakterien, die Schadkeime hemmen und bekämpfen können. Nicht nur wir haben schon die Erfahrung gemacht – es gibt auch Studien dazu –, dass bei kühler Lagerung coliforme Keime durch diese Abwehrmechanismen abgebaut werden. Durch die Pasteurisierung verliert die Rohmilch hingegen dieses Immunsystem!“
Das erklärt auch, warum es selbst bei pasteurisierten Milchprodukten immer wieder zu Listerien-Skandalen kommen kann. „In bestimmten Fällen kann pasteurisierte Milch Keimen viel mehr Platz zur Ausbreitung und Vervielfältigung geben als Rohmilch“, bestätigt auch Martin Nuart. „Einfach, weil sie ohne die vielen Enzyme und Bakterien nicht dagegen ankämpfen kann. Ich selbst bin mit Rohmilch aufgewachsen – und bin wie so viele nie deswegen krank geworden, im Gegenteil.“
Fest steht: Pasteurisierung ist offenbar nicht nur eine Folge, sondern auch eine Notwendigkeit der industriellen Milchproduktion, die mit ihren unüberschaubaren Liefer- und Produktionsketten anders keine Lebensmittelsicherheit garantieren kann. Kleine, handwerkliche Milchverarbeitungsbetriebe hingegen – von denen es in einem alpinen Milchproduktionsland wie Österreich so viele gibt! – könnten in Zukunft verstärkt auf die Vorteile von Rohmilch setzen. Indem sie wie die Familie Nuart oder Robert Strasser auf Pasteurisierung verzichten. Einfach, weil’s besser schmeckt – und gesünder ist.